Der Splitter und der Balken

Es ist, wie es ist.

Erfahrungen mit Achtsamkeit

Gedankenverloren gehe ich meines Weges, überquere eine Strasse, ohne mich danach erinnern zu können, ob die Ampel überhaupt auf grün stand.
Oder ich sitze konzentriert in einer Gruppe, erfasse, was inhaltlich gesagt wird, wer sich wie äussert und wie die einzelnen Teilnehmenden untereinander interagieren. Ich denke mit, versuche das Gesagte zu beurteilen und aufgrund meines bereits vorhandenen Vorwissens einzuordnen. Ich kann vielleicht auch beschreiben, was gruppendynamisch abläuft und anhand eines verinnerlichten Modells erklären. Würde ich aber jetzt gefragt, wie es mir geht, könnte ich dies wohl spontan nicht beantworten; weil ich gerade nicht „bei mir“ bin.
Oder jemand erzählt mir etwas, während ich gedanklich noch schnell den weiteren Verlauf des Tages zu planen versuche. Ich höre zwar die Worte des Gegenübers, nicht aber, was die Person mir wirklich sagen will.

Zu einem recht grossen Teil lebte und lebe ich mein Leben wohl – meist ohne dies zu realisieren – unachtsam, gedankenverloren, zerstreut und nicht wirklich präsent.

Erstmals bewusst begegnete ich dem Konzept der Achtsamkeit im Rahmen ignatianischer Exerzitien, wo Bibelworte bzw. Szenen, Bilder oder Weisheitstexte in der Haltung der Achtsamkeit betrachtet werden und ohne zu bewerten wahrgenommen wird, was sich im Innern, in den eigenen Emotionen und Gedanken regt.
Später, in der Methode des Focusings, lernte ich konkret auch körperliche Resonanzen zu beachten und diese bewusst in der Haltung der Achtsamkeit und Absichtslosigkeit wahrzunehmen. Man lässt dabei die Körperresonanz auf ein bestimmtes Thema durch nicht bewertendes Verweilen bei dem Körperempfinden zu Wort kommen, und nimmt in einem ersten Schritt einfach aufmerksam wahr, was sich zeigt.
Im MBSR (mindfulness based stress reduction) lernte ich ein Achtsamkeitsprogramm kennen, das ursprünglich zur Behandlung von chronischen Schmerzpatienten und zur Reduktion erlebten Stresses entwickelt wurde.
Die Haltung der Achtsamkeit, die all diesen Methoden zu grunde liegt, lässt mich also wahrnehmen und verweilen, bei dem, was ist.
Nicht, was sein sollte ist relevant, sondern einzig, was ist. Und das, was in diesem Moment achtsamer Wahrnehmung ist, darf sein, genau so, wie es ist. Es braucht nicht beurteilt, eingeordnet, verändert oder abgewehrt zu werden, sondern darf einfach so sein.
In diesem erlaubten So-sein-dürfen liegt sowohl der Zauber des gegenwärtigen Seins, wie auch der Ausgangspunkt zur Wandlung.
Was sein darf, kann sich wandeln. Es kann sich verändern, sich entwickeln, heilen …

In der Achtsamkeit geht es nicht primär darum, zu begreifen, was ich wahrnehme, oder zu begründen, was ist, sondern erstmals absichtslos und ohne zu bewerten wahrzunehmen und dieses Wahrgenommene auch wahr sein zu lassen.
Das Einüben dieser Haltung erlebe ich herausfordernd und befreiend zugleich.
Herausfordernd, weil hinter dem Reflex, etwas sofort zu beurteilen oder einzuordnen, mitunter auch das Bedürfnis nach Sicherheit steckt, das Bedürfnis den Überblick und letztlich die Kontrolle zu behalten. Diese gefühlte Sicherheit muss ich loslassen, auf meine bewährten Strategien verzichten. Stattdessen muss ich mich mutig – bzw. darf ich mich vertrauensvoll – auf das noch unbekannte Gegenwärtige einlassen. Ich darf mich überraschen lassen vom Momentanen und staunend zulassen, was ist.
Im achtsamen Dasein bei mir selbst, vor Gott, bei einem Wort, bei einem Bild, in der Natur, bei einem anderen Menschen oder im alltäglichen Tun zeigt sich mir mitunter eine Wirklichkeit, die sonst verborgen bleibt, und die vielleicht nicht oder noch nicht in Worte gefasst werden kann. Es bereichert meine Welt um eine weitere Dimension. Es offenbart sich mir immer wieder neu ein Stück tiefere Wahrheit über das, was ist. Und diese tiefen inneren Erfahrungen des „Es ist, wie es ist“ hat etwas sehr Befreiendes. Für mich wird darin der Vers 8,32 aus dem Johannesevangelium erlebbar: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Es ist die Wahrheit dieses Momentes und meines Lebens, die sich mir zeigt, eingebettet in eine grosse Wahrheit, die uns letztlich Geheimnis bleibt.
Diese Erfahrungen verhelfen mir auch im Alltag zu mehr Gelassenheit, mehr Akzeptanz, dass alles seine Zeit hat, mehr Zugang zu der Kraft der Symbole, die lebendig und subjektiv in uns wirken, stets mehrdeutig sind und nicht eindeutig erklärt oder objektiv zugeordnet werden können. Und sie berühren mein Herz und führen mich an den Ort der Sehnsucht, der Traurigkeit und der Freude und an die innere Quelle der Liebe.
Mein Bedürfnis nach Erklärbarkeit weicht einer fragenden Offenheit.
Versuchte ich früher alles so lange zu analysieren und zu hinterfragen, bis ich zu begreifen glaubte, fällt es mir heute leichter, mit Ungewissheiten zu leben und Spannungen auszuhalten. Während sich Widersprüche einst gedanklich irgendwie aufzulösen hatten, lebe ich heute viel mehr in Frieden mit dem Nebeneinander von Widersprüchlichem, mit dem Sowohl-als-auch.

Nach wie vor nutze ich meine Fähigkeit, gedanklich zu hinterfragen, zu analysieren, zu reflektieren und mögliche Schlussfolgerungen zu ziehen.
Heute jedoch bin ich mir bewusst, dass ich mich dabei oft – um möglichst objektiv beurteilen zu können – in eine Beobachterposition begebe, die Distanz schafft und mich nicht wirklich beteiligt sein lässt.
Im Zustand der Achtsamkeit hingegen erfasse ich einen Moment mit allen Sinnen, lasse also das, was ist, an mich heran. Da beobachte ich nicht nur, sondern erfahre, was sich gerade abspielt und bin Teil dieser Erfahrung. Ich bin ganz bei mir und ganz beim andern. Und ich bin ganz im Hier und Jetzt, im gerade sich ereignenden Moment. Als ganze Person bin ich mitten im Geschehen, spüre das Gefühl der Verbundenheit, eine Verbundenheit mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen, mit Gott, wenn ich intuitiv auch das „Dazwischen“ wahrnehme, das nicht Sicht- und Messbare, das nicht Erklärbare und das über mich Hinausgehende.

Ich entscheide heute selber, wann ich analytisch und gründlich ein Thema gedanklich ergründen und erarbeiten will und wann ich mich in achtsamer Offenheit der subjektiv wahrnehmbaren Realität des Hier und Jetzt aussetzen und mich dadurch beschenken lassen will. Beides ergänzt sich so mehr und mehr zu einer für mich gesunden Ausgewogenheit.

E.Z., Enneagrammmuster 5 (mit deutlichem 4-er Flügel)

Erschienen im EnneaForum Nr. 53, Mai 2018, Heftthema: Achtsamkeit

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