Jahrestagung 2018 im Kloster Hünfeld

Aus dem EnneaForum Nr. 16, November 1999

Jotams Fabel
(Ri 9,8–15)
Versuch einer fantasievollen Auslegung
von Pastor Ulrich Krämer

„Einst kamen die Bäume zusammen, um sich einen König zu wählen.
Sie sagten zum Ölbaum: „Sei du unser König!“
Aber der Ölbaum erwiderte: „Soll ich vielleicht aufhören, kostbares Öl
zu spenden, mit dem Götter und Menschen geehrt werden? Soll ich
über den Bäumen thronen?“
Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: „Sei du unser König!“
Doch der Feigenbaum erwiderte: „Soll ich vielleicht aufhören, süße
Feigen zu tragen? Soll ich über den Bäumen thronen?“
Da sagten sie zum Weinstock: „Sei du unser König!“
Doch der erwiderte: „Soll ich aufhören, Wein zu spenden, der Götter
und Menschen erfreut? Soll ich über den Bäumen thronen?“
Schließlich sagten sie zum Dornstrauch: „Sei du unser König!“
Und der Dornstrauch erwiderte: „Wenn ihr mich wirklich zu eurem
König machen wollt, dann bückt euch und sucht Schutz unter
meinem Schatten! Sonst wird Feuer von meinen Dornen ausgehen,
das sogar die Zedern des Libanons verbrennt!“

Liebe Enneagrammfreundinnen und -freunde!
Vor geraumer Zeit fiel mir diese faszinierende Fabel in die Hände. Sie sprach mich sofort an. Zuerst faszinierten mich die Bäume, die das Angebot, König zu werden, ablehnten. Es wäre ja auch wirklich zu schade, wenn der Ölbaum kein kostbares Öl, der Feigenbaum keine süße Feigen und ganz besonders der Weinstock keinen Wein mehr geben könnten. Gut, daß sie der Versuchung zur Macht nicht nachgegeben haben. Aber – oh weh und ach –, wer ziert sich nicht wie die anderen und nimmt sich die Macht ganz ungeniert? Der Dornenbusch. Er scheut sich nicht einmal, bereits im Vorhinein anzukündigen, welche Unterdrückung und Versklavung den anderen Bäumen drohen werden, sollte er zum König gewählt werden. Und weh dem, der sich ihm dann nicht unterwirft! Im Feuer soll er verbrennen!

Vor meinem inneren Auge leuchten auf einmal die Feuer des Lagers Auschwitz und der brennenden Stadt Hamburg und die Bilder all der anderen Vernichtungen und Unterdrückungen, die sich bis heute ereignen. Sie sind nicht vom Himmel gefallen. Sie kamen mit der Vorankündigung dieses Dornbusches. Weil die Menschen seine Vorbedingungen akzeptierten, wurden sie seine Opfer. Weil die Menschen dachten, es würde wohl nicht so schlimm werden, traf es sie besonders hart. Weil sie glaubten, es würde sie selbst schon nicht treffen, wurden sie die ersten Opfer.
Dabei hätten sie es wissen können. Die Bedingung war klar formuliert: Die übrigen Bäume sollten sich unter den Dornbusch ducken. Sie hätten wissen können, dass das nicht geht. Ein stattlicher Ölbaum kann sich nicht unter einen mickrigen Busch erniedrigen. Sie hätten wissen können, dass die Androhung von Strafe ernst gemeint war. Ein Dornbusch ist nun einmal dazu da, andere aufzureißen, ihnen weh zu tun und sie zu unterdrücken. Aber die drei prachtvollen Exemplare der Gattung Baum dachten nur an sich selbst und ihre Verwirklichung.

Schlußendlich haben sämtliche Bäume dadurch ihren Wert und Stolz verloren. Nicht durch eigene Machtanmaßung, aber durch die unüberlegte Unterwerfung unter die eines Dornbusches. Am Ende bleiben nur Zerstörung und Elend zurück. Welch eine Apokalypse … welch eine Realität?! Ist es eine Enneagrammrealität?!
Ich fantasiere vielleicht etwas gewagt. Aber im Gefolge einer Fabel darf ich das wohl: Und so ordne ich die drei Bäume den drei Zentren zu. Im Weinstock vermute ich das Bauchzentrum. Ich sehe in ihm die Neun, die sich der Realität nicht stellen will und sich lieber mit Wein betäubt. Vom Bauch aufsteigend will dieser das Hirn berauschen und verleitet dazu, sich über die unangenehmen Wahrheiten hinwegzumogeln. Sollten wir Bauchmenschen wirklich auf diesen Rausch verzichten?

Im Ölbaum erkenne ich das Herzzentrum. Ich sehe vor mir die eitle Vier, die sich mit Öl und Düften schmückt und zur Schau stellt. Wie könnte sie ihre Schönheit preisgeben und sich ernsthaft die Hände schmutzig machen … König spielen? Ja, sicherlich! König sein? Lieber nicht …
Bleibt der Feigenbaum, der süße. Ich sehe in ihm – völlig unsachlich – die furchtsame Sieben und höre seichte Worte ohne viel Tiefgang. Sollte jemand allen Ernstes erwarten, daß man das süße Leben der Leichtigkeit gegen den ungewissen Tiefgang eintauscht? Oh, was würde man riskieren. Nein, lieber nicht!
Ich sehe in den drei Bäumen uns alle, sehe in ihnen die Gefahr beschrieben, sich selbst ohne Bindung an die Realität verwirklichen zu wollen. Die Versuchung, sich selbstverliebt mit sich zu beschäftigen und die soziale Verantwortung zu leugnen, erkenne ich. Bei mir selbst erlebe ich die Falle, mich mit dem Enneagrammwissen über mich und andere irgendwie einzurichten und zufrieden damit zu sein. Ich denke schon, daß ich in der Gefahr stehe, mich zu sehr um mich selbst zu drehen. Nicht jede/r ist dieser Gefahr erlegen, aber die Mahnung der biblischen Fabel steht warnend im Raum und gilt sicherlich auch uns Enneagrammlern.

Doch was wäre die Alternative? Ich fantasiere: Der Ölbaum, der Weinstock und der Feigenbaum können sich zusammentun. Jeder von ihnen kann einige Aufgaben des Königs übernehmen. Jeder kann einige Abstriche an seine Selbstverwirklichung machen. Gemeinsam haben sie die Chance, sie selbst zu bleiben und doch eine Ganzheit zu bilden. Der Verlust wird sogar zum Gewinn für sie selbst und andere.

Ich erinnere mich an den „Rat der Weisen“ auf der letzten Jahreshauptversammlung. Erst durch das Zusammenspiel der drei Zentren wurde die Weisheit vollkommen. Nicht eine/r mußte die Probleme in der Seelsorge lösen helfen, sondern die Ganzheit der Betrachtungsweisen und Blickwinkel, die Gesamtheit der Energien und Temperamente machte die Problemlösung so gewichtig und weise. Dies ist für mich das eigentliche Geheimnis des Enneagramms: das Zusammenspiel der neun Typen, der drei Zentren und eines jeden Individuums. Ich wünsche uns dieses Erleben und immer wieder den Mut dazu.

Es grüßt Euch in diesem Sinn
Euer Ulrich Krämer

 

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