Der Splitter und der Balken

Den Hebel umlegen – Achtsamkeit und Meditation

Seien Sie wie ein Ritter im Mittelalter, der ohne Waffe einen Wald von Schwertern durchschreitet … Pirschen Sie gleich einem Löwen mit langsamem, gelöstem und doch festem Gang durchs Revier … Dies ist die Art von Wachheit und Achtsamkeit, die Sie brauchen, um völlig zu erwachen.

So beschreibt der bekannte Meditationslehrer Thich Nhat Hanh das Wunder der Achtsamkeit in seinem gleichnamigen Buch. Im konkreten Alltag geht das oft aber nur ein paar Schritte gut, dann ist es aus mit Ritter und Löwe und der hektische Alltag hat uns wieder überrollt.
Achtsamkeit – das Zauberwort unserer unachtsamen Zeit. Ein alternativer Lebensstil – flankiert von zahlreichen Achtsamkeitsbüchern. Sie sprechen tiefe Wahrheiten aus, doch das auch zu leben, was man schon lange weiß, ist nicht einfach.
Ein neueres Achtsamkeitsbuch, noch nicht lange auf dem Markt, 2016 auf Deutsch erschienen, mit dem Titel: Alles Große beginnt klein – von Jan Sedivý, einem ursprünglich aus Tschechien stammenden Kontemplationslehrer, fällt durch seine Lebensnähe und Alltagstauglichkeit auf.
Zunächst wollte ich es nicht lesen, kein weiteres Kontemplationsbuch mehr. Einfach weiter Kontemplation üben, nach dem Motto: Theoretisch weiß ich schon alles. Doch wie’s der Zufall oder die Fügung will: Ich habe dann doch die Nase reingesteckt. Und fing an zu lesen. Kapitel für Kapitel und Schritt für Schritt bin ich in eine Achtsamkeit hineingewachsen, die mich zutiefst berührt und mir in einer schwierigen Phase sehr geholfen hat.
Es ging mir beim Lesen so, wie es der Prager Theologe Tomaš Halík im Vorwort schreibt, dass er immer wieder zum Buch griff, um durch die Lektüre für seine einleitenden Gedanken inspiriert zu werden: Aber jedes Mal inspirierte mich das Lesen zu etwas ganz Anderem, nämlich dazu, mich für eine Weile in Stille hinzusetzen und zu meditieren …
Ein paar Seiten aus Sedivýs Buch vor dem stillen Sitzen motivieren mich für die Übung der Meditation, ein kleines, wohltuendes Ritual. Denn für mich ist klar: Ich kann den Hebel vom Alltagsbewusstsein zur Wahrnehmung des Augenblicks in der Meditation umlegen, für mich ist das der Königsweg zur Achtsamkeit.
Ein entscheidendes Merkmal von Sedivýs Kontemplationsbuch ist seine Lebensnähe. Immer wieder stellt der Autor an den Anfang eines Kapitels eine kleine Begebenheit aus seiner Lebenswelt, wie zum Beispiel seine Erfahrung bei einem mehrtätigen Kontemplationskurs, als er, der Leiter, von einer Teilnehmerin, einer Physiotherapeutin, mit den Worten angesprochen wird: Sie sitzen nicht richtig, und von ihr einige Tipps erhält, die er in seiner Leitungsposition zunächst nicht so leicht annehmen kann. Du bist ein Anfänger – geht es ihm durch den Kopf, aber nach einer Weile findet er diese Erkenntnis befreiend. Anfänger sein ist nicht Inkompetenz. Es ist eine Haltung, bei der ich weiß, dass jeder Mensch, jedes Lebewesen und alles, was ist, mir etwas zu sagen hat.
Ein weiterer „Pluspunkt“ des Buches von Sedivý ist seine unaufdringliche spirituell – religiös – christliche Ausrichtung. In seinem Kapitel Erfahrungswissen zum Beispiel geht er auf die Erkenntniswege im Christentum ein. Bei der Beschreibung des Erfahrungsweges heißt es: Die Liebe zu Gott drückt sich als Liebe zu dem aus, was jetzt ist. Denn dieses Jetzt ist die Art, wie Gott sich mir gerade mitteilt. Eine andere gibt es nicht. Hier geht es nicht um richtig und falsch, was in einer dogmatischen Glaubenssicht vorrangig ist, sondern um den gelebten Glauben im Hier und Jetzt.
Bereichernd ist an dem Buch auch, dass bekannte Einsichten wohltuend neu formuliert werden: Nicht der Schein, sondern die Verankerung im Sein bringt Erfüllung und lässt uns im Reinen sein mit uns selbst. Im konkreten Alltag bedeutet dies: Wie wir denken und was wir sagen, wie wir uns entscheiden und handeln, sollte mit dem übereinstimmen, was wir zutiefst sind.
Vor kurzem habe ich Jan Sedivý in einem Kontemplationskurs genauso stimmig erlebt: zurückhaltend in seiner Leiterrolle, engagiert für die Meditation und hilfsbereit gegenüber uns Teilnehmer*innen.
Was hat das alles mit dem Enneagramm zu tun? Nicht von ungefähr hat sich Jan Sedivý längere Zeit damit beschäftigt. Auch im Enneagramm geht es um Bewusstheit und Tiefgang. Achtsamkeit ist für mich deshalb die wünschenswerte Umgangsweise mit dem Enneagramm, denn es geht darin immer um Menschen auf ihrem Entwicklungsweg, und wie sollten wir uns dabei anders begegnen als mit Achtsamkeit?

Wally Kutscher

Erschienen im EnneaForum Nr. 53, Mai 2018, Heftthema: Achtsamkeit

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