OM C. Parkin: Unerfüllte Liebe. Der Sog in die Scheinwirklichkeit.
Die spirituelle Dimension der Enneagramms
3. Band. Verlag advaita media Hamburg (2022)
Mit dem 3. Band hat OM C. Parkin seine Trilogie zu den drei Grundkräften des Enneagramms nun abgeschlossen: 2016 erschienen mit «Angst. Die Flucht aus der Wirklichkeit» und 2020 mit «Zorn. Der Kampf gegen die Wirklichkeit» die Bände 1 und 2.1 Diese hatten je besondere Affinität zu den drei sog. Kopftypen (Angstfixierung) bzw. den drei Bauchtypen (Zornfixierung), während dieser 3. Band die Hauptfixierung der drei Emotionalen Enneatypen zum Thema macht. Wobei alle drei Themen über die jeweiligen Enneatypen hinaus von grundsätzlicher Bedeutung für uns alle sind.
Bei den auf Beziehung ausgerichteten Enneatypen ZWEI, DREI und VIER steht nun das Thema der unerfüllten Liebe im Zentrum: «Das Ich weiss nicht, was Liebe ist, es möchte geliebt werden. Dieses Ich erfährt in sich ein Gefühl von Mangel (im emotionalen Zentrum) … hier ist der Motor für die ständige Suche nach Liebe, nach Aufmerksamkeit und Wert.» (S. 13) Daraus entsteht bei diesen drei Enneatypen eine Flucht in den Schein (Image), der schliesslich wichtiger wird als das SEIN. Der gefühlte Liebesverlust wird dabei mit unterschiedlichen Kompensationsformen bewältigt:
• Der am Enneapunkt DREI fixierte Charakter findet in der Eitelkeit Triebkraft, die Zukunft einer besseren Welt herzustellen, um dadurch Bewunderung zu finden. Echte Gefühle müssen der Präsentation eines perfekten Bildes Platz machen. Die natürliche Schöpferkraft wird missbraucht für den Aufbau einer Scheinwelt, in der das Ich sich sonnen kann: Liebe wird dabei durch Anerkennung ersetzt.
• Das Selbstbild an Punkt ZWEI besteht im Bild des unentbehrlichen Gebers, der Liebe gibt, jedoch vorgibt, selber keine zu brauchen. Emotionale Bedürftigkeit ist beschämend, der Stolz kompensiert diesen Schmerz mit dem Anspruch, endlos geben zu können: Liebe wird dadurch pervertiert, indem andere abhängig gemacht werden, während man sich selber mit dem Schein der Bedürfnislosigkeit umgibt, um dafür Aufmerksamkeit und Lob zu bekommen.
• Der an Punkt VIER fixierte Charakter sieht sich als Opfer von Zurückweisung und enttäuschter Erwartungen. Der Neid verhindert sowohl Einverstandensein mit, und das Wertschätzen von dem, was ist. Das Leiden an der dadurch installierten Illusion des Mangels verwandelt die Liebe in eine unerfüllbare Zukunft und Scheinwelt, die sehnsüchtig überall vergebens gesucht, jedoch in der Realität nirgends gefunden werden kann. Liebe wird in den fragenden Schrei verwandelt: siehst du mich, auch meinen Schmerz?
Auf dem inneren Weg geht es darum, diese Missverständnisse der Liebe zu erkennen: «Das Ich will haben» wäre der Klartext, der sich in allen drei Varianten hinter ihren manipulativen Strategien versteckt. «Der Wunsch geliebt zu werden kann als egoistische Haltung erkannt werden, die aufgegeben werden muss, um den Fluss der Liebe zu entdecken, der aus dem ungeschützten offenen Herzen entspringt.» (S. 20) OM C. Parkin beschreibt im Folgenden diese Strategien – analog der beiden andern geistig-emotionalen Säulen des Egos (Angst und Zorn) – als Positionsverschiebungen, die für den Verlust von Realität verantwortlich sind: als Verlust einer filterlosen direkten Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie die Heiligen Ideen des Enneagramms repräsentieren.
In seinen Erläuterungen dieser falschen Identifikationen und ihrer weisheitlichen Transzendierung werden die Muster von Ennea-DREI (dem Muttertyp der Imagefixierung) und Ennea-ZWEI sehr plastisch beschrieben, während mir Parkins Charakterisierung der VIER jedoch in einem zentralen Punkt nicht einleuchtet: indem er schreibt, dieser «Schöngeist» reduziere seine Aufmerksamkeit auf die schönen Dinge des Lebens, was mit einer «verarmten Wahrnehmung für die Schattenseite» einhergehe (S. 48), wird er einem wesentlichen Zug dieser Charakterfixierung nicht gerecht: Es ist doch gerade die VIER, die «innere Untiefen» NICHT meidet, sondern im Gegenteil, darin und im Schmerz des Unerfüllten zu versinken droht, nämlich für alle andern eine Zumutung zu sein (negatives bzw. ambivalentes Image).
Abgesehen von dieser kritischen Bemerkung gilt für alle drei gleichermassen: «Wenn der Spiegel nicht mehr ‘die Anderen’ sind, das Ich sich abgeschminkt hat, um in der eigenen Nacktheit sich anzuschauen, dann ist die langersehnte Erfüllung der Liebe nicht mehr fern.» (S. 54). Wer seine ‘Identifikationen’ (Gurdjieff) aufgibt, an denen wir festhalten, lässt damit Illusionen los und landet schliesslich in der Realität, in der er Erfüllung findet in dem und in allem, was IST. Ein langer Weg, durch Stationen von Selbsterkenntnis und Loslassen, durch immer tiefere Ego-Schichten hindurch: Entmaskierungen, durch die man schliesslich zu sich selbst vorstösst, beim eigenen Selbst und auch dem wahren eigenen Wert ankommt. Es ist dies die «vollständige Einkehr in den Augenblick, mit jeder Faser des Seins» (S. 61).
«Ein schwerwiegendes Missverständnis des emotionalfixierten Menschen besteht darin, emotionalisierte Zustände, insbesondere solche höherer Intensität, mit Lebendigkeit – ja mit dem Leben selbst – zu verwechseln, ohne die Unterscheidung zwischen geistig produzierten Emotionen und wahren Gefühlen zu bemühen … Das Finden der emotionalen Mitte ist für das emotionsfixierte Ich (und alle neun Enneatypen kennen Aspekte davon, ergänze ich als Rezensent) von grosser heilerischer Bedeutung, sie eröffnet den Zugang zum Herzmenschen, jene wahre Wesensart, welche zum Vorschein kommt, wenn sich die emotionale Fixierung zu lösen beginnt.» (S. 66f) In dieser emotionalen Mitte angekommen, finden diese drei Enneatypen (und auch alle sechs andern) zu emotionaler Ruhe, echten Herzensgefühlen und die ersehnte Verankerung in der eigenen Seele – und damit zu Wahrheit und Liebe.
Der spirituelle Weg der Transformation: uns nicht der Gnade verschliessen!
Der zweite Teil des Buchs schöpft aus OM C. Parkins langjährigen Erfahrungen mit dem inneren Weg und der Transformationsarbeit mit dem Enneagramm. Dieser spirituelle Weg im Anschluss an die Weisheitslehre, die als Unterströmung in vielen Kulturen zu finden ist (auch philosophia perennis genannt), besteht im Kern darin, ALLE Identifikationen, an die sich unsere Ego-Struktur – unser Enneatyp – klammert, zu erkennen und loszulassen. Entlang zentraler Begriffe, v.a. dem Stolz, der Eitelkeit, dem Neid und je ihrer Zerstörungskraft – und ausführlich auch zur Liebe und ihren mannigfachen Fehlformen wird dies konkret durchbuchstabiert. Zu scheinbar Vertrautem bekommt man als Lesende manch tiefere Einsichten. Ich bin sehr froh, dass Parkins 1995 gegründete Enneallionce-Schule für Innere Arbeit die mit dem Enneagramm mögliche Transformationsarbeit auf eine sehr radikale und kon-sequente Art versteht und praktiziert. Diese Arbeit mit dem Enneagramm ist leider in der aktuellen Enneagrammszene weithin vergessen bzw. unbekannt (ihr konkretes know how).
Die Botschaft der Trilogie aller drei Bände mündet in diesem 3. Band so: «Wir müssen auf diesem Weg auf sehr vieles verzichten … Betrachte dich als Süchtigen. Ein Süchtiger muss verzichten, auf Gewohnheiten, auf die selbstproduzierte Wiederholung der immer gleichen Geschichten und Emotionen, auf die schnelle Befriedigung der Gier, auf alles Alte … Wir müssen alles aufgeben, um alles zu bekommen. Alles verlieren, um alles zu gewinnen. Das ist für den ‘habenorientierten’ Mangeldenker nicht zu verstehen … Deine angenommene Identität des Bettlers wird sich nicht verändern, so funktioniert jedes Ich. Der Bettler wird das Halten nie aufgeben, er kann nur sterben! Natürlich kannst du diesen Schwertschlag nicht selbst ausüben. Es ist der Gnade überlassen. Doch die Gnade ist keine Kraft, die uns verwehrt ist, vielmehr verwehren wir uns der Gnade. Das können wir ändern … wir können uns bereit machen: Wir können in einen Zustand der Bereitschaft, der Willigkeit, der Offenheit eintauchen. Wir können aufhören, uns der Gnade zu verwehren, indem wir renitent, hartnäckig, verschlossen und eigenwillig immer wieder von Neuem die gleichen, ausgetretenen Pfade wandern. Wir können bereit werden für etwas vollkommen Neues.» (S. 223 und 220).
Ich empfehle, diesen und auch die beiden ersten Bände in Enneagrammgruppen durchzuarbeiten. Anspruchsvolle Kost, jedoch mit Aussicht auf grossen Gewinn! OM C. Parkin vergleicht es selber mit dem Kauen von trockenem Brot: «Trocken Brot ist Nahrung für Fortgeschrittene des inneren Weges. Für Anfänger gibt es mehrgängige Menus: der noch emotionalisierte Geist ist ständig auf der Suche nach Nahrung, nach Formen der Stimulation.» (Und sei dies, ergänze ich als Rezensent: das Enneagramm unverbindlich mit immer wieder allerlei neuen Themen zu verbinden und darüber zu angeregt zu debattieren, anstatt mit ihm nüchtern und schlicht in die Tiefe – und an die eigenen Hausaufgaben heranzugehen.) Liebe ist da – ist SEIN. Sie ist still, ohne spektakuläre Gefühle oder Erleuchtungssensationen, nach denen jeder Enneatyp in seiner Weise lang vergeblich im Aussen sucht, und sich ihr so aktiv verschliesst.
Mai 2023 / Samuel Jakob / www.enneagramm.ch
1 Den ersten Band (Angst) habe ich im EnneaForum Nr. 50 (2017) besprochen und wärmstens empfohlen, den zweiten (Zorn) im EnneaForum Nr. 59 (2021) vorgestellt – diesen jedoch mit einer Kritik, da mir nicht Zorn, sondern Wut im Zentrum der drei Bauchtypen ACHT, NEUN und EINS vorherrschend scheint, Zorn jedoch unterdrückte Wut und die emotionale Leidenschaft von Enneatyp EINS darstellt, und mir nicht der «Heilige Zorn» als seine Erlösung einleuchtet, «Heitere Gelassenheit», die nicht gegen die Wirklichkeit ankämpft.
Veröffentlicht im Enneaforum Nr. 61, Nov. 2023