Die Subtypen und wie man sie besser verstehen kann

Meine Eltern sind schon vor einigen Jahren verstorben. Gern würde ich sie über „Resilienz“ befragen, z.B. so:
„Mutti, wie hast du als 19-jährige junge Frau den freiwilligen Einsatz im Lazarett bei den vom Krieg verwundeten Männern erlebt? Und die Bombenangriffe auf unsere Heimatstadt?“ „Vati, wie hast du das verkraftet, dass du als 17-jähriger junger Mann wegen einer explodierenden Mine zwar nicht dein Leben, aber ein halbes Bein verloren hast?“ „Und wie habt ihr die zehn Jahre nach 1945 geschafft, den Hunger, die Geldknappheit und die Unsicherheit, wie Vati beruflich Fuß (!) fassen kann?“
Was könnte ich von ihnen über „Resilienz“ lernen?
Ich stelle mir vor, sie würden sagen: „Wir haben nicht danach gefragt, was wir fühlen, sondern getan, was getan werden musste.“ In unserer Familie ist diese Art von Tapferkeit und Tüchtigkeit ein hohes Gut, gepaart mit einem fraglosen Vertrauen in das Leben. Das darf man getrost auch „Gottvertrauen“ nennen. Kann man das „Resilienz“ nennen? Was denn sonst.
Wikipedia: Resilienz (von lateinisch resilire: zurückspringen, abprallen, nicht anhaften), auch Anpassungsfähigkeit, ist der Prozess, in dem Personen auf Probleme und Veränderungen mit Anpassung ihres Verhaltens reagieren. Dieser Prozess umfasst:
• Auslöser, die Resilienz erfordern (z.B. Traumata oder belastender Stress),
• Ressourcen, die Resilienz begünstigen (z.B. Selbstwertgefühl, positive Lebenshaltung, unterstützendes soziales Umfeld) und
• Konsequenzen (z.B. Veränderungen im Verhalten oder in Einstellungen).
So weit, so gut und wertvoll. Und was ist mit den Risiken und Nebenwirkungen?
Zum Beispiel die Atemnot meiner Mutter bei emotionalen Regungen (Liebe, Freude, Ärger usw.). Eine subtile reflexartige Verspannung im Brustbereich, vielleicht als unwillkürliche innere Bewegung, um den drohenden Zusammenbruch der Schutzmauern gegen Angst und Schmerz zu verhindern? Und um zu vermeiden, was alles passieren könnte, wenn sie mal nicht ihre Pflicht tun würde oder sogar illoyal wäre? Zum Beispiel die Angst meines Vaters vor der hinter seiner offensichtlichen Güte lauernden explosiven Wut über viel unterdrückte Vitalität und über das viel zu wenig gelebte Leben als künstlerisch sehr begabter Mann?
Im Enneagramm-Kontext: Jedes der neun im Enneagramm-Modell beschriebenen Muster beinhaltet wertvolle resilienzfördernde Ressourcen. Manchmal – nicht immer und nicht zwangsläufig – ist der „Preis“, der dafür zu bezahlen ist, aber leider sehr hoch.
Gibt es denn – jenseits der manchmal zu „kostspieligen“ Musterdynamiken – Resilienz-Erfahrungen, die wirkungsvoller sind und die weniger Risiken und Nebenwirkungen haben? Ich meine: ja.
Ich denke dabei an Gurdjieffs Veranschaulichung der Wirkungsweisen der drei „Zentren“ mit Hilfe der Metapher von der Kutsche1: Eine „Kutsche“ (der Körper, das „Bauchzentrum“) wird von „Pferden“ (die Emotionen, das „Herzzentrum“) gezogen und von einem „Kutscher“ (die Vernunft, das „Kopfzentrum“) gelenkt. Hinten sitzt der „Herr“ (anders als bei Gurdjieff würden wir heute sagen: es darf gern auch eine Frau sein) und wird von diesem Dreier-Transportsystem durchs Leben kutschiert. Wohin die Reise geht, sollte nicht der Kutscher bestimmen, auch nicht die Pferde, auch nicht die (evtl. führerlose) Kutsche. Das wäre schon die Angelegenheit der „Lady“/des „Herrn“ hinten in der Kutsche. Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, dass Kutsche, Pferde und Kutscher fit (resilient) sind.
Für körperliche, emotionale und geistige Fitness kann man aktiv viel tun (Sport, Yoga, Chi Gong, Feldenkrais, Focusing, Psychoanalyse, Achtsamkeitskurse, Zen und und und). Wie bei jedem Training kommt es entscheidend darauf an, dass „sie“/“er“ in der Kutsche ein gutes Gespür für das richtige Maß hat, denn eine dem Ehrgeiz geschuldete Überdosis an Training schadet genauso wie Nachlässigkeit und mangelnde Pflege.
Alle drei „Zentren“ brauchen maßvolle, konsequente und vor allem liebevolle Pflege.
Auf Grund von „Pflege“ (oder auch „Nicht-Pflege“, z.B. ausgelöst durch extreme positive oder negative Ereignisse) entstehen dann manchmal quasi von selbst gewisse „Zustände“ („higher states“), in denen es NICHTS(!) mehr zu tun gibt. Hier erleben wir dann eine Art Resilienz, die nicht durch unsere wunderbaren Muster und auch nicht durch unsere zusätzlichen Pflegeaktivitäten hervorgerufen wird, sondern die sich einfach so ereignet („Gnade“). Es mag allerdings sein, dass die „Gnade“ ein wenig leichter wirken kann, wenn wir fit sind.
Beispiele für solche resilienten „higher states“ sind z.B.
• das klare, wache Bewusstsein einer Freiheit und Unabhängigkeit, die durch äußere Umstände nicht beirrbar ist
• ein überfließendes nicht emotional gebundenes Mitgefühl
• eine Tatkraft oder auch „Lassenskraft“, die nichts berechnet und nicht auf Resultate schielt.
In diesen „erlösten“ (von mir aus auch „erleuchteten“) Zuständen im Zusammenwirken der Energien der drei „Zentren“ findet sich eine Resilienz, die kein Aufhebens von sich selbst macht, die hauchzart ist wie ein Duft und in dieser Zartheit unzerstörbar. Ich glaube, meine Eltern hatten davon einiges, und es war gut, dass davon nicht groß die Rede war.
In dem, wie ich finde, sehr sehenswerten Film „Mission Joy“ über der Freundschaft von Desmond Tutu und dem Dalai Lama wird Seine Heiligkeit gefragt, wie es denn sein kann, dass so viel Freude aus ihm herauslacht angesichts des großen Elends des tibetischen Volks. Und der Dalai Lama antwortet: „Oh yes, yes! Broken heart is joy!“
Resilienz? Was denn sonst.

Hans Neidhardt
www.hans-neidhardt.de
www.focusingforlife.de

Veröffentlicht im Enneaforum Nr. 61, Nov. 2023

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