Kontakt mit dem "Fremden"
In der gegenwärtigen Flüchtlingskrise werden wir alle mit dem konfrontiert, was der bekannte Tiefenpsychologe und Begründer der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jung als den »Schatten«-Archetyp bezeichnet hat. Das Fremde, das uns begegnet, erzeugt in uns Ängste und Abwehrreaktionen, Wertungen und Urteile werden wachgerufen, die Gemüter reagieren emotional überhitzt. Solche Reaktionen kann man nach Jung als so genannte »Schatten-Projektionen« verstehen: Unbewusste und ungeliebte eigene Persönlichkeits-Anteile machen sich bemerkbar, indem sie uns etwas Bedrohliches, Schwieriges, Dunkles, vielleicht sogar »Dämonisches« im Außen, in einem Gegenüber, erkennen lassen.

In einem Online-Lexikon der Analytischen Psychologie steht dazu: »Jung definiert den Begriff 1945 als das, was der Mensch nicht sein möchte: Jedermann ist gefolgt von einem Schatten, und je weniger dieser im bewussten Leben des Individuums verkörpert ist, umso schwärzer und dichter ist er. Wenn eine Minderwertigkeit bewusst ist, hat man immer die Chance, sie zu korrigieren. Auch steht sie ständig in Berührung mit anderen Interessen, so dass sie stetig Modifikationen unterworfen ist. Aber wenn sie verdrängt und aus dem Bewusstsein isoliert ist, wird sie niemals korrigiert. Es besteht überdies die Gefahr, dass in einem Augenblick der Unachtsamkeit das Verdrängte plötzlich ausbricht. Auf alle Fälle bildet es ein unbewusstes Hindernis, das die bestgemeinten Versuche zum Scheitern bringt.« (1) (2)

Was ich nicht sein möchte

»Der Schatten ist alles das, was du auch bist, aber auf keinen Fall sein willst« (C.G. Jung).

Jede(r) von uns, die (der) ein Enneagramm-Buch zur Hand nimmt und dort die vielen Beschreibungen menschlicher Persönlichkeitsaspekte liest, tut das mit einem wertenden Blick. Manche dieser Eigenschaften gefallen uns, andere weniger. Mit einigen davon identifizieren wir uns gerne, sie passen in unser positives Selbstbild, andere hingegen lehnen wir ab.

In den ersten Begegnungen mit unserem eigenen Enneagramm-Muster geschieht meist etwas, was C.G. Jung als den »Blick in den Spiegel des Wassers« beschreibt:  »Wer zu sich selber geht, riskiert die Begegnung mit sich selbst. Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nie zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht. Dies ist die erste Mutprobe auf dem inneren Wege, eine Probe, die genügt, um die meisten abzuschrecken, denn die Begegnung mit sich selber gehört zu den unangenehmeren Dingen, denen man entgeht, solange man alles Negative auf die Umgebung projizieren kann.« (3)

Nur diejenigen Menschen, die diesen Blick aushalten und nicht vor ihrem eigenen ungeschminkten Angesicht davon laufen, werden den Mut fassen, sich weiter mit Enneagramm-Studien zu beschäftigen. Auf diesem Weg taucht einiges in unserem Wahrnehmungsfeld auf, was wir bisher nicht wirklich sein wollten. Wenn wir es annehmen und vielleicht sogar umarmen können, sind die ersten Schritte der Schattenintegration schon getan.

Das bisher Unbewusste

Die gute Nachricht bei C.G. Jung ist dabei, »dass der unbewusste Mensch, eben der Schatten, nicht nur aus moralisch-verwerflichen Tendenzen besteht, sondern auch eine Reihe guter Qualitäten aufweist, nämlich normale Instinkte, zweckmäßige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse und anderes mehr«; das Böse im Schatten entstehe oft erst durch die »Verdrehung, Verkrüppelung, Missdeutung und missbräuchliche Anwendung an sich natürlicher Tatsachen«.(4)

Nicht alles, was im Laufe unseres Lebens hinter die Verdrängungs-Schranke gelangt ist, muss uns also Angst machen. Es gibt dort auch »verlorene Seelenanteile« – wie es im Schamanismus heißt – deren Wiederauffinden unserer Ganzwerdung und Heilung dient. Können wir uns diese abgespaltenen Anteile wieder zu eigen machen, erleben wir immer einen Zuwachs an Vitalität und Lebensfreude.

Meist waren es schmerzhafte Kindheitserfahrungen oder prägende Einflüsse des früheren sozialen Umfelds, die zu der Not-Lösung geführt haben, einen Teil unseres angelegten Potenzials nicht leben zu wollen. Die Mechanismen, mit denen diese Persönlichkeitsaspekte einst aus dem Bewusstsein verbannt worden sind, sind auch im Erwachsenenleben noch aktiv. Daher braucht es hier immer eine bewusste Hinwendung, wenn sich etwas wandeln soll.

Unser »Seelenkind« am Trostpunkt des Enneagramms

Sandra Maitri beschreibt in ihrem Buch »Neun Porträts der Seele«, (5) die Entwicklung zu unserem Herzpunkt (Trostpunkt) als eine solche »Schattenarbeit«. Sie geht davon aus, dass wir im Verlauf dieses Prozesses einen kindlichen Seelenanteil wieder entdecken können, der unserem Wesen sehr viel näher ist, als das »verletzte Kind« unseres eigenen Ennea-Musters.

Diesen verloren gegangenen Wesensaspekt, nennt Maitri unser »Seelenkind« und schildert, wie es zunächst aus seinem verdrängten »Schattendasein« heraus unangenehm auffällt. (6) Erst durch eine bewusst erlaubte und geförderte Nachreifung, können sich seine Eigenschaften in unserem Erwachsenenleben für uns und andere segensreich entfalten.

Dieser Prozess braucht vor allem eine mitfühlende Selbstannahme derjenigen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die wie ein »ungezogenes Kind« daher kommen. Nur durch bewusste Zuwendung und geduldiges »Abschleifen« können sie sich ins Positive verwandeln.

In den Seelenkind-Seminaren wird es meist als befreiend erlebt, wenn zum Beispiel die EINS mal ihr »gieriges Kind« ausleben darf, das sich ohne die gewohnte Selbstkontrolle seinen Völlerei-Gelüsten hingeben kann. Die SECHS entdeckt im Erlauben ihres »faulen Kindes« oftmals eine tiefe Sehnsucht, die von ihrem Pflichtbewusstsein stets unterdrückt wurde. Und die ACHT freut sich, wenn sie mal ungeniert ihren kindlichen Nähe- und Zärtlichkeitsbedürfnissen Raum geben kann und diese auch beantwortet werden. Bisher unausgelebte Wünsche und Impulse werden in solchen Übungs-Experimenten unmittelbar als wesentlich erlebt.

Das »authentische Selbst« in der Begegnung mit dem Stresspunkt

Diese Schattenarbeit am Trostpunkt führte bei mir zunehmend zu einer Neugier, welcher Schatten sich eigentlich hinter der emotional meist besonders schwierigen Erfahrung mit unseren Stresspunkt-Eigenschaften verbirgt und welche Schätze dort zu heben sind. Ich möchte hier die Erkenntnisse meiner bisherigen Forschungs- und Seminararbeit zu diesem Thema ein wenig beschreiben.

Licht und Schatten prallen in der Stressreaktion unserer Muster am stärksten aufeinander. Das reibungslose und gewohnte Funktionieren der Charakter-Strategien unseres Enneatyps (die  »persona« = Maske), wird an dieser Stelle im Scheitern erlebt: Die bisher so liebenswürdige ZWEI rastet aus und wird zur wütenden Furie, die souveräne DREI erlebt einen Selbstwert-Crash und traut sich gar nichts mehr zu, die sonst gut sortierte FÜNF gerät in den Zustand des »monkey mind«, wo ihr jede gedankliche Orientierung abhanden kommt, usw.

Stresspunkte wollen wir möglichst vermeiden. Wir gehen den Lebensereignissen, die sie triggern, tunlichst aus dem Weg. Damit verhindern wir allerdings auch die Erfahrung, nackt und bloß, unschuldig und ohne den Schutz einer verlässlichen Hülle, dem Leben zu begegnen. An der Stelle wohnt unser »authentisches Selbst«, unsere »wahre Mitte«. Die Beschäftigung mit dem Schattenaspekt am Stresspunkt kann uns den Weg dorthin zeigen. (7)

In den Momenten, in denen die Integration dieser »dunklen Seite« gelingt, erleben wir uns als durchlässige Persönlichkeit, die ihr persönliches Leid überwunden hat und keine (Schutz-)Maske mehr braucht.

»Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt,
sieht sich von zwei Seiten, und damit kommt er in die Mitte«.
C.G. Jung

April 2016, Maria-Anne GallenPsychologische Psychotherapeutin (Enneaforum 49 – www.enneagramm.eu)

Fussnoten:

(1) Alle kursiv geschriebenen Texte sind Originalzitate von C.G. Jung (aus Internet-Recherchen)
(2) www.analytische-psychologie.org/woerterbuch
(3) C.G. Jung: Bewusstes und Unbewusstes, Frankfurt am Main: Fischer, 1985, S. 28
(4) C.G. Jung (1950): Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. GW Band 9/2: §423.
(5) Sandra Maitri: Neun Porträts der Seele. Die spirituelle Dimension des Enneagramms. Bielefeld, 2001
(6) vgl. M.-A. Gallen: Das wütende Enneagramm-Kind, EnneaForum 43, Mai 2013
(7) vgl. M.-A. Gallen: Die Verwandlung am Stress-Punkt des Enneagramms. In EnneaForum 47, 2015

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