Seid nicht Kinder, wenn es um Verstehen geht.
Predigt von Hildegard Holoubek-Reichold auf der ÖAE-Jahrestagung 2018
„Ich zeige Dir meine Welt – Wie bist Du anders?“
Das hat uns diese Tage beschäftigt als unser Thema, Programm und Leitfaden. Wir alle, die jetzt hier sind, haben als ÖAE-Mitglieder bei allen Unterschieden wesentliche Gemeinsamkeiten: Wir wollen uns nicht mit Klischees und Vor-Urteilen zufrieden geben, sondern – der Botschaft des Evangeliums gemäß und mit Hilfe des Enneagramms – wertschätzend mit uns selbst, unseren Mitmenschen, unserer Umwelt umgehen.
Thomas von Aquin hat einmal gesagt: „Wenn auch alle Dinge, sofern sie Dasein haben, die göttliche Weisheit abbilden, so bilden doch nicht alle sie auf ein und dieselbe Weise ab, sondern auf verschiedene Weise und in verschiedenem Maße“.
Diese Erkenntnis spiegelt sich im Enneagramm. Und von der Bibel können wir uns auch dahingehend inspirieren lassen. So lautet der Predigttext für den heutigen Sonntag: „Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn: im Geist redet er Geheimnisse. Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. … Liebe Brüder und Schwestern, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Bosheit geht; im Verstehen aber seid erwachsen“ (1. Kor. 14, 1-3.20).
„Strebt nach der Liebe!“ – Scheinbar unvermittelt und wie ein Hammerschlag steht dieser Appell am Anfang des Predigttextes. So wirkt das aber nur, wenn man das vorangehende Kapitel über „Die Liebe als höchste Geistesgabe“ bzw. „Das Hohelied der Liebe“ nicht gelesen hat. Dieses endet mit den Worten: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Kor. 13, 13). Dieser wohlbekannte Satz benennt, was Enneagrammkenner auch als die Einladungen oder Heiligen Ideen der Enneagramm-Dreieckspunkte 6, 3 und 9 kennen: Glaube, Hoffnung, Liebe.
Nun ist es ja so, dass aus Enneagramm-Sicht grundsätzlich keine der 9 Heiligen Ideen mehr oder weniger wertvoll ist. Und nach dem Verlust der Heiligen Ideen ist die Mitte, wo wir uns alle begegnen können, gleich weit entfernt von jedem der 9 Punkte auf dem Kreis.
Ich bin überzeugt, dass es auch Paulus letzten Endes nicht um eine Auf- oder Abwertung der Grundhaltungen Glaube, Hoffnung oder Liebe geht. Dennoch sagt er: „aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ und fordert ausdrücklich: „Strebt nach der Liebe!“.
Mit dieser Forderung ist er nicht allein. An vielen Stellen der Bibel findet sich das Liebesgebot. Es ist die Grundlage. Schon im Alten Testament und natürlich auch in den Evangelien. Der Wortlaut ist nicht überall derselbe, wohl aber die Botschaft. So heißt es bei Matthäus: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Bei Lukas: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet. Vergebt, so wird euch vergeben“. Bei Johannes: „Jesus spricht: Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe“. Paulus wiederum präzisiert das Liebesgebot, wie wir gehört haben, noch folgendermaßen: „Liebe Brüder und Schwestern, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Bosheit geht; im Verstehen aber seid erwachsen.“
Das ist ganz schön herausfordernd. Wie nähern wir uns diesem Ideal? Hier und heute?
Ich finde ja, Paulus‘ Aufforderungen zum Umgang mit Verstehen und Bosheit könnten geradezu als Anleitung für unsere Arbeit mit dem Enneagramm und für unseren Umgang miteinander formuliert worden sein. Wir beschäftigen uns mit dem Enneagramm, um mehr Klarheit über uns selbst und unsere Mitmenschen zu gewinnen. Das Enneagramm fördert unser Bewusstsein dafür, wie sehr und womit wir uns selbst und andere immer wieder täuschen. Wie wir dadurch Verwicklungen, Konflikte und Unglück mit heraufbeschwören. Je klarer wir das erkennen – gemäß Paulus Worten „im Verstehen aber seid erwachsen“ –, desto eher werden wir wie „Kinder, wenn es um Bosheit geht“. Automatisch geht das freilich nicht.
In den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde steht heute noch ein Paulus-Wort aus seinem Brief an die Kolosser: „Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung!“.
Ich verstehe das als Aufforderung und Ermutigung zum Innehalten und zu einer Haltung der Achtsamkeit. Zur Ruhe kommen, aufmerksam da sein, wahrnehmen, was ist … Das ist unter anderem eine wesentliche Voraussetzung für wahres Verstehen.
Und es tut gut, sich bedingungslos angenommen, anerkannt und verstanden zu fühlen. In der Haltung der Achtsamkeit können wir das für uns selbst erfahren und in unsere Umgebung ausstrahlen. Leider lassen wir uns meistens aber schnell wieder herausreißen aus dieser Haltung und fallen zurück in unsere vertrauten starren Muster, Automatismen und Urteile. Das geht leicht und passiert ganz von selbst, aber es tut uns und unserer Umgebung nicht gut. Das merken wir dann spätestens, wenn wir zum Beispiel ausgebrannt sind oder heftig mit jemand aneinandergeraten, wenn wir wütend oder verzweifelt sind.
Passenderweise lautet der Wochenspruch für den heutigen Sonntag und die kommende Woche: „Christus spricht: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“. Wenn wir diese Zusage in ihrer Tiefenbedeutung verstehen, annehmen und in uns aufnehmen, erfahren wir darin ein tragendes Gefühl von Geborgenheit, Gehalten- und Angenommen-sein, das in unserem normalen Alltag leider allzu oft und allzu leicht in Vergessenheit gerät. Aber nur in der Erfahrung und dem Bewusstsein des Gehaltenseins können wir ohne Angst um unsere eigene Sicherheit, Anerkennung oder Selbsterhaltung über uns selbst hinaus und in eine ganz neue Qualität des Daseins hineinwachsen. In solchen Momenten erleben wir das Leben in Fülle, von dem unter anderem im Johannes-Evangelium die Rede ist. Auch im Epheserbrief, den wir heute schon in der Lesung gehört haben, geht es – mit völlig anderen Worten freilich – um diese Qualität: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“.
Ist das nicht eine unglaubliche Zusage und ein schönes Bild für unsere Zugehörigkeit, unser Gehaltensein im besten Sinne? Es wäre meines Erachtens kein Schaden, wenn sich möglichst viele Menschen davon inspirieren ließen, über ihre bewussten und unterschwelligen Ängste und Zwänge hinauszuwachsen.
Dass es uns allen gelingen möge, uns als „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ würdig zu erweisen und unseren ganz persönlichen Beitrag zum Reich Gottes zu leisten, das verleihe Gott uns allen. Amen.
Predigtlied:
Wir strecken uns nach dir, in dir wohnt die Lebendigkeit.
Wir trauen uns zu dir, in dir wohnt die Barmherzigkeit.
Du bist, wie du bist: Schön sind deine Namen.
Halleluja. Amen. Halleluja. Amen.
Wir öffnen uns vor dir, in dir wohnt die Wahrhaftigkeit.
Wir freuen uns an dir, in dir wohnt die Gerechtigkeit.
Du bist, wie du bist: Schön sind deine Namen.
Halleluja. Amen. Halleluja. Amen.
Wir halten uns bei dir, in dir wohnt die Beständigkeit.
Wir sehnen uns nach dir, in dir wohnt die Vollkommenheit.
Du bist, wie du bist: Schön sind deine Namen.
Halleluja. Amen. Halleluja. Amen.
in EnneaForum Nr. 54, Dezember 2018, Titelthema: Leidenschaft