Im September 2011 habe ich bei einer Veranstaltung in Bern eine junge Frau aus Kolumbien erlebt, deren Redebeitrag mich bis heute sehr bewegt: Karoline Buys musste als achtjähriges Mädchen mit ansehen, wie die Guerilla ihren Vater entführte. Sechs Jahre später wurde seine Leiche gefunden, und das Mädchen geriet in eine extreme spirituelle Krise, weil – wie sie annahm – die Kraft ihrer Gebete und ihres Glaubens nicht ausgereicht hatte, den Vater lebend zurück zu bringen. Mitten in dieser Krise „sah“ sie (in einer „Vision“) die gequälten und nach Erlösung schreienden Seelen der Entführer, ihr Herz wurde still, und sie fand die Mission ihres Lebens: Vergebung.
Diese Geschichte bekommt in diesen Tagen eine spezielle Aktualität: Die FARC-Rebellen Kolumbiens haben nach vierjährigen Verhandlungen unter Beteiligung des kommunistischen Regimes in Kuba und der katholischen Kirche (unter Mitwirkung von Papst Franziskus) ein Friedensabkommen mit der Regierung unterzeichnet, das den 50 Jahre dauernden Terror mit über 200 000 Toten beenden soll. Die FARC bittet öffentlich um Vergebung für die verübten Massaker. Und dieses Abkommen wurde in einer Volksabstimmung (Wahlbeteiligung: 37%) knapp zurückgewiesen. Präsident Santos hat den Friedens-Nobelpreis bekommen.
Anlass für ein paar Gedanken über “Vergebung“ und “Versöhnung“:
Die junge Kolumbianerin hat den Entführern nicht in dem Sinn vergeben, dass sie irgendetwas aktiv unternommen hätte. Dieses (er-)lösende „tiefe Schauen“ wurde ihr geschenkt, und daraus entstand für sie eine innere Verpflichtung.
Vielleicht ist es mit wirklicher (d.h. wirksamer) Vergebung ja tatsächlich so, dass dieser Prozess sich ereignet, wenn alles eigene Tun-Wollen oder gar Tun–Müssen still wird, wenn das Bewusstsein im innersten Inneren des Herzens in einem Zustand jenseits jeder Identifikation mit dem eigenen Leid (und damit jenseits jeder Täter-Opfer-Polarisierung) ganz still wird und auf diese Weise ein Mitgefühl erfahrbar wird, das keinen Unterschied mehr macht. Im Buddhismus gibt es dafür den Ausdruck „tiefer Schauen“. Auf dieser Ebene gibt es dann kein „Ich“ mehr, das Vergebung „tut“. Da ist einfach die innere Erfahrung einer Freiheit und Herzensstille.
Heißt das dann, dass vergangenes Unrecht ungeschehen gemacht wird? Nach dem Motto „halb so schlimm“? Haben ca. 20% der Menschen in Kolumbien dieses historische Abkommen deswegen abgelehnt? Das wissen wir nicht so genau. Soviel aber ist sicher: die Bagatellisierung vergangenen schlimmen Unrechts bewirkt keine Versöhnung – weder im Großen (zwischen Nationen oder gesellschaftlichen Gruppen) noch im Kleinen (zwischen Einzeltätern und -opfern). Nur über das Anerkennen wird es möglich, weiter zu gehen.
In jeder Therapie mit einem Missbrauchsopfer geht es zunächst darum, das Schlimme beim Namen zu nennen und den Täter „Täter“ zu nennen und das Opfer „Opfer“ zu nennen! Das fällt dem Opfer oft schwer, weil es sich schuldig fühlt, wenn es den Täter „Täter“ nennt, weil es den Täter (auch) liebt. Bei Menschen, die als Kind (sexuelle, gewalttätige, entwürdigende) Übergriffe von Familienmitgliedern erlebt haben, kommt das ziemlich oft vor. Leider wird diese Verwirrung bei „spirituell“ ausgerichteten Menschen manchmal noch durch falsch verstandene Ideen (z.B. über das „Gesetz der Anziehung“) noch verstärkt, nach dem Motto: „Ich habe dieses Schicksal angezogen, letztlich bin ich selber schuld.“ Auch eine Vergebungs-Ideologie, die den Hass und die Rachegelüste des Opfers vorschnell verurteilt, trägt manchmal dazu bei, dass das Schlimme sich verkrustet und zu einem starren Anteil in der Persönlichkeit wird.
Erst wenn das Schlimme ohne Wenn und Aber erkannt und anerkannt ist, kann sich die Verwirrung lösen und die Identifikationen können sich lockern. Irgendwann kommt in einem solchen Prozess (vielleicht und hoffentlich) die Stelle, wo ein innerer bewusster Verzicht auf das Recht auf Wiedergutmachung möglich wird. Dann wird Herzensfrieden allmählich fühlbar. Das muss aber keinesfalls automatisch zur Folge haben, mit dem Täter von damals Kontakt zu pflegen, wenn er (oder sie) sich weiterhin destruktiv benimmt – z.B. bei einem alkoholkranken gewalttätigen Elternteil.
„Versöhnung“ bedeutet: Ich bin im Frieden mit dem, was war. Und wenn alle Beteiligten so empfinden können: Wir sind im Frieden mit dem, was war. Der therapeutische Prozess dorthin wird scheitern, wenn das Festklammern an der Opfer-Identität nicht aufgegeben werden kann, weil das eben gleichzeitig bedeuten würde, die Ansprüche gegenüber dem Täter innerlich aufzugeben und von dem Recht auf Wiedergutmachung keinen Gebrauch zu machen. Der Frieden und die damit verbundene innere Freiheit haben einen Preis.
Und was ist mit der Enneagramm-Perspektive in diesen Prozessen?
Das Enneagramm mit seinen Beschreibungen von „Persönlichkeitsmustern“, „Charakterfixierungen“, „Egostrukturen“… kann helfen, dieses Festklammern in Prozess der Selbstreflexion differenziert deutlich werden zu lassen: Mein Muster kommt ja genau an der Stelle auf Touren, wo meine tiefste Verletzlichkeit berührt wird. Oder berührt werden könnte. Wenn ich mein intensives Festhalten an dieser Stelle präzise und ohne Urteil in aller Ruhe und mit Liebe betrachte, dann steigt die Chance, dass etwas in mir loslässt. Ich schaue tiefer – und dort ist Vergebung.
Diese Geschichte bekommt in diesen Tagen eine spezielle Aktualität: Die FARC-Rebellen Kolumbiens haben nach vierjährigen Verhandlungen unter Beteiligung des kommunistischen Regimes in Kuba und der katholischen Kirche (unter Mitwirkung von Papst Franziskus) ein Friedensabkommen mit der Regierung unterzeichnet, das den 50 Jahre dauernden Terror mit über 200 000 Toten beenden soll. Die FARC bittet öffentlich um Vergebung für die verübten Massaker. Und dieses Abkommen wurde in einer Volksabstimmung (Wahlbeteiligung: 37%) knapp zurückgewiesen. Präsident Santos hat den Friedens-Nobelpreis bekommen.
Anlass für ein paar Gedanken über “Vergebung“ und “Versöhnung“:
Die junge Kolumbianerin hat den Entführern nicht in dem Sinn vergeben, dass sie irgendetwas aktiv unternommen hätte. Dieses (er-)lösende „tiefe Schauen“ wurde ihr geschenkt, und daraus entstand für sie eine innere Verpflichtung.
Vielleicht ist es mit wirklicher (d.h. wirksamer) Vergebung ja tatsächlich so, dass dieser Prozess sich ereignet, wenn alles eigene Tun-Wollen oder gar Tun–Müssen still wird, wenn das Bewusstsein im innersten Inneren des Herzens in einem Zustand jenseits jeder Identifikation mit dem eigenen Leid (und damit jenseits jeder Täter-Opfer-Polarisierung) ganz still wird und auf diese Weise ein Mitgefühl erfahrbar wird, das keinen Unterschied mehr macht. Im Buddhismus gibt es dafür den Ausdruck „tiefer Schauen“. Auf dieser Ebene gibt es dann kein „Ich“ mehr, das Vergebung „tut“. Da ist einfach die innere Erfahrung einer Freiheit und Herzensstille.
Heißt das dann, dass vergangenes Unrecht ungeschehen gemacht wird? Nach dem Motto „halb so schlimm“? Haben ca. 20% der Menschen in Kolumbien dieses historische Abkommen deswegen abgelehnt? Das wissen wir nicht so genau. Soviel aber ist sicher: die Bagatellisierung vergangenen schlimmen Unrechts bewirkt keine Versöhnung – weder im Großen (zwischen Nationen oder gesellschaftlichen Gruppen) noch im Kleinen (zwischen Einzeltätern und -opfern). Nur über das Anerkennen wird es möglich, weiter zu gehen.
In jeder Therapie mit einem Missbrauchsopfer geht es zunächst darum, das Schlimme beim Namen zu nennen und den Täter „Täter“ zu nennen und das Opfer „Opfer“ zu nennen! Das fällt dem Opfer oft schwer, weil es sich schuldig fühlt, wenn es den Täter „Täter“ nennt, weil es den Täter (auch) liebt. Bei Menschen, die als Kind (sexuelle, gewalttätige, entwürdigende) Übergriffe von Familienmitgliedern erlebt haben, kommt das ziemlich oft vor. Leider wird diese Verwirrung bei „spirituell“ ausgerichteten Menschen manchmal noch durch falsch verstandene Ideen (z.B. über das „Gesetz der Anziehung“) noch verstärkt, nach dem Motto: „Ich habe dieses Schicksal angezogen, letztlich bin ich selber schuld.“ Auch eine Vergebungs-Ideologie, die den Hass und die Rachegelüste des Opfers vorschnell verurteilt, trägt manchmal dazu bei, dass das Schlimme sich verkrustet und zu einem starren Anteil in der Persönlichkeit wird.
Erst wenn das Schlimme ohne Wenn und Aber erkannt und anerkannt ist, kann sich die Verwirrung lösen und die Identifikationen können sich lockern. Irgendwann kommt in einem solchen Prozess (vielleicht und hoffentlich) die Stelle, wo ein innerer bewusster Verzicht auf das Recht auf Wiedergutmachung möglich wird. Dann wird Herzensfrieden allmählich fühlbar. Das muss aber keinesfalls automatisch zur Folge haben, mit dem Täter von damals Kontakt zu pflegen, wenn er (oder sie) sich weiterhin destruktiv benimmt – z.B. bei einem alkoholkranken gewalttätigen Elternteil.
„Versöhnung“ bedeutet: Ich bin im Frieden mit dem, was war. Und wenn alle Beteiligten so empfinden können: Wir sind im Frieden mit dem, was war. Der therapeutische Prozess dorthin wird scheitern, wenn das Festklammern an der Opfer-Identität nicht aufgegeben werden kann, weil das eben gleichzeitig bedeuten würde, die Ansprüche gegenüber dem Täter innerlich aufzugeben und von dem Recht auf Wiedergutmachung keinen Gebrauch zu machen. Der Frieden und die damit verbundene innere Freiheit haben einen Preis.
Und was ist mit der Enneagramm-Perspektive in diesen Prozessen?
Das Enneagramm mit seinen Beschreibungen von „Persönlichkeitsmustern“, „Charakterfixierungen“, „Egostrukturen“… kann helfen, dieses Festklammern in Prozess der Selbstreflexion differenziert deutlich werden zu lassen: Mein Muster kommt ja genau an der Stelle auf Touren, wo meine tiefste Verletzlichkeit berührt wird. Oder berührt werden könnte. Wenn ich mein intensives Festhalten an dieser Stelle präzise und ohne Urteil in aller Ruhe und mit Liebe betrachte, dann steigt die Chance, dass etwas in mir loslässt. Ich schaue tiefer – und dort ist Vergebung.
Hans Neidhardt
im EnneaForum Nr. 50