Der Splitter und der Balken

Ich habe eine Leidenschaft für den Herbst. Es ist die Jahreszeit, in der in meinem Leben die wirklich wichtigen Ereignisse stattfinden. Ich bin im Herbst geboren, ich habe mich im Herbst in meinen Mann verliebt, mein erstes Kind ist im Herbst entstanden, das zweite zur Welt gekommen und ich kam in einem Herbst zu einer einschneidenden Berührung mit meiner Vergänglichkeit, dem Kranksein, einer Diagnose, dem heilenden Eingreifen Gottes und dem wunderbaren Fortschritt der Medizin.
Wenn die Tage wieder kürzer werden, die langen Jeans die Shorts ersetzen und wir zum ersten Mal wieder ein Feuer im Cheminée entfachen, füllt sich mein Inneres mit einer schönen Ruhe. Ich werde in der Stille erwartungsvoll und aufhorchend. Eigentlich entspricht dies gar nicht meinem Naturell als DREI. Es könnte mir auch der Sommer fehlen, an dem die Tage genügend lang sind, um alles anzupacken, was mir an Ideen durch den Kopf und an Energie durch den Körper geht. Es könnten mir die menschenbevölkerten Strassen der warmen Jahreszeit fehlen, wo an jeder Kreuzung ein Hallo entsteht und der Spielplatz Ort der Begegnung ist.
Natürlich koste ich diese Jahreszeit.
Der Herbst jedoch scheint für mich die Zeit zu sein, in der ich dem Wesentlichen einfacher Raum geben kann. Wie ein Baum, der seine Blätterpracht fallen lässt. Ende Herbst sieht man ihn nackt und in seiner ungeschmückten Form. Bereit, die Last des Schnees zu tragen bis er im Frühling wieder neu spriessen darf und im Sommer Frucht trägt.
Gott scheint meine Liebe zum Herbst und meine innere Offenheit jeweils dafür zu gebrauchen, meinen Schmuck und meine Blätterpracht fallen zu lassen. Ich weiss, dass ich in seinen Augen anerkannt und geliebt bin, so wie er mich geschaffen hat. Mit einer tiefen Wurzel und einem starken Stamm. Mit Ästen, die weit in alle Richtungen reichen. Sie strecken sich oft nach Erfolg, Glanz und Anerkennung aus. Aber wenn diese fallen, bin ich doch verwurzelt und genährt vom Boden an der Quelle des lebendigen Wassers.
Als ich das Enneagramm entdeckte, fand ich in der Beschreibung der Wurzelsünde eine neue Sprache, um über das nachzudenken, was mich in meinem Leben immer wieder vom Wesentlichen und von der Hingabe zu Gott trennt: der Betrug, die Täuschung. Dort bleibt es aber nicht stehen. Wenn ich diese (Überlebens)strategie immer wieder ans Kreuz bringe und durch Gottes Vergebung in mir sterben lasse, erwächst daraus eine Geistesfrucht, diejenige der Wahrhaftigkeit.
Der Herbst führt mich stärker als andere Zeiten im Jahr zu diesem Sterben, zum Loslassen und zum Anerkennen, wer ich bin. Geschöpf und nicht Schöpfer. Gerufene und nicht Rufende. Abhängig von Gnade und Erlösung. Welch Geschenk, dass ich mich nicht selber erlösen muss und dass gerade aus diesem Hingeben reife, schöne Frucht wächst.

E. Tschurr

in EnneaForum Nr. 54, Dezember 2018, Titelthema: Leidenschaft(en) – Wofür schlägt mein Herz? Was schafft Leiden?

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